(aktualisiert am 27.04.2016)
Drei Monate mit Tilman Rammstedts „Morgen mehr“.
Zwischen dem 11. Januar und 9. April 2016 hat der Hanser Verlag Tilman Rammstedts sozusagen in Echtzeit geschriebenen Fortsetzungsroman „Morgen mehr“ online veröffentlicht. Jeden Tag (wobei dabei, traditionellen Arbeitszeiten folgend, von Montag bis Freitag gemeint ist) gab es ein neues Kapitel, das der Autor am Vortag geschrieben hatte. Insgesamt sind es 64 Kapitel geworden.
Meine ersten Eindrücke, aufgeschrieben am 6. Februar 2016:
Was mir gefällt:
– „Morgen mehr“ ist gut geschrieben. Die Sprache und der Ton gefallen mir, die Kapitel haben eine verdauliche Länge, das Lektorat scheint gute Arbeit zu leisten, ich langweile mich nicht und sehe gern dabei zu, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Außerdem ist „Morgen mehr“ originell und lustig, was ja auch nicht so häufig vorkommt. (Ich habe bislang noch nichts anderes von Tilman Rammstedt gelesen, vermute aber mal, dass seine bisherigen Veröffentlichungen auch mit diesen Etiketten versehen werden können.)
– Mir gefällt die Plot-Entwicklung. Die Hauptfigur beginnt ihre Erzählung kurz vor ihrer Geburt. (Wenn ich es richtig sehe, ist ihr Geschlecht noch nicht bekannt, oder täusche ich mich da?) Nach 25 Kapiteln kennen sich ihre Eltern immer noch nicht, und so wie es aussieht, wird es bis zu ihrer Begegnung – und der Zeugung – noch einige Kapitel dauern. Das erste Kapitel erzählt bereits von einigen Einzelheiten aus dem Leben des Ichs, die Vermutung liegt nahe, dass es nach der für Silvester angekündigten Geburt erst richtig losgeht.
Was der Autor hier macht, ist natürlich ziemlich geschickt. Er baut sich jede Menge Vorlauf auf, damit ihm nicht im März die Puste – bzw. der Stoff – ausgeht. Ob er seinen Roman dann am 8. April 2016 tatsächlich, wie angekündigt, beendet, ist eine andere Frage.
– Tilman Rammstedt gelingt es, mit scheinbar geringem Aufwand, Figuren mit ausreichend Geschichte einzuführen, um sie über einen längeren Zeitraum zu begleiten. Auch das ist clever. Arbeitet ein Autor mit vielen verschiedenen Figuren, macht er mehrere Schauplätze auf, löst das gern Bewunderung bei Kritikern und Lesern aus. Seine Fähigkeit, mehrere Erzählstränge parallel zu verfolgen und am Ende idealerweise alle (oder zumindest die meisten davon) aufzulösen, wird dann gern gelobt. Dabei ist diese Strategie aus Autorensicht gar nicht so schwer durchzuführen.
Nehmen wir zum Beispiel den Klassiker der unendlichen Erzählstränge: „Game of Thrones“: Ja, es gibt unfassbar viele Hauptfiguren, aber weil jede dieser Hauptfiguren in jeder Folge, wenn wir über die Serie sprechen, kaum mehr als fünf Minuten auftaucht, müssen sich die Macher auch nur darum kümmern, die Geschichte der Figur in lediglich fünf Minuten Erzählzeit voranzutreiben. Das bietet die Möglichkeit zur Verdichtung, die Autoren sind dazu gezwungen, Überflüssiges wegzulassen, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, was die Figur in der Regel nach jeder Folge mit einer Reihe von (noch) nicht erzählten Geheimnissen zurücklässt. Die Spannung bleibt also erhalten, der Zuschauer verfolgt die Geschichte der Figur ohne das Gefühl, sich an ihr sattgesehen zu haben.
Eine ähnliche Vorgehensweise sehe ich auch bei „Morgen mehr“. So wird die Geschichte der Mutter in den ersten zwanzig Folgen nur in 5,5 Folgen erzählt, das Ich steht in den ersten beiden Folgen und in Folge 14 im Mittelpunkt, am meisten Raum nimmt der Vater mit 8,5 Folgen ein. Nur in einer Folge (9) wechselt die Perspektive in der Mitte: Die erste Hälfte wird aus Sicht der Mutter erzählt, die zweite aus der des Vaters. In der letzten Woche (4) haben wir seit Dienstag (Folge 17) nichts mehr von der Mutter gehört, seit wir sie, Steaks essend, verlassen haben. Diese Erzähltechnik ermöglicht dem Autor gewissermaßen Verschnaufpausen; er muss sich nicht zwanghaft jeden Tag überlegen, wie es mit jeder Figur weitergeht, kann sich einer anderen Figur zuwenden, wenn es mit einer Figur nicht so recht vorangeht.
So wie es jetzt aussieht, werden bald auch andere Figuren als Vater, Mutter und das Ich eigene Kapitel bekommen. Kapitel 18 zum Beispiel, eigentlich Vater-Kapitel, wird fast durchgängig aus der Perspektive der drei Männer im Pelz erzählt, und auch Dimitri hat zweifellos das Potential, das ein oder andere Kapitel allein auszufüllen. Zudem gibt es montags immer „Was wir bislang wissen / Was wir noch nicht wissen“-Kapitel, einen Puffer, der weniger Zusammenfassung darstellt als vielmehr neue Fragen aufwirft. Auch diese Idee passt recht gut in den Erzählfluss.
– Es funktioniert! Rein technisch, meine ich. Zugebenermaßen ist die Anmeldung für das Abo ein wenig kompliziert-deutsch-bürokratisch (muss wohl so sein), aber wenn man das erst einmal hinter sich hat, funktioniert alles auf der Seite so, wie es soll. Sie ist leicht zu bedienen, verzichtet auf jeglichen Schnickschnack, bietet alle relevanten Informationen. Der neue Ausschnitt steht jeden Tag vor neun Uhr bereit, die E-Mail-Benachrichtigung kommt pünktlich, und die WhatsApp-Benachrichtung funktioniert auch (wobei ich mich da jetzt wieder abgemeldet habe, weil ich den Text lieber direkt auf der Internetseite lese).
– Die Herangehensweise vonseiten des Autor, des Verlags, des Teams im Hintergrund und des Publikums an dieses Projekt ist erfrischend unverkrampft, unaufgeregt, ausbalanciert. Niemand gibt vor, es hier mit dem nächsten großen Ding zu tun zu haben, weder das Schreiben und Lesen im Internet noch die Literatur selbst soll revolutioniert werden. „Die Idee des Fortsetzungsromans ist natürlich altehrwürdig und auch im Netz wurde schon viel Work in Progress veröffentlicht. Aber täglich mit einem neuen Romankapitel zum Mitlesen und Anhören geweckt zu werden, dürfte neu sein“, heißt es auf morgen-mehr.de einigermaßen bescheiden.
– Es ist gelungen, eine Community interessierter Leser aufzubauen, die täglich mitliest und fleißig kommentiert. Autor Tilman Rammstedt und Verleger Jo Lendle diskutieren, wohl dosiert, mit.
– Wie sympathisch: Es gibt keine Facebook-Seite, keinen Twitter-Account, keinen YouTube-Kanal, keine Instagram-Seite oder sonstigen Social-Media-Mist zu „Morgen mehr“! Hanser bespielt diese Kanäle zwar in seiner Funktion als Verlag; wer will, kann dort also seinen Senf zu „Morgen mehr“ abgeben, doch der eigentliche Austausch findet in der geschützten Welt auf morgen-mehr.de statt.
– Die täglichen Leserkommentare sind wohlgesinnt, in erfreulich korrekter Rechtschreibung verfasst, freundlich, positiv, und – Überraschung! – niemand wird beleidigt. Kann es sein, dass wir es hier mit dem seltenen Phänomen einer Internetdiskussion ohne jegliche Form von Hass und Beleidigungen zu tun haben? (Kleine Abschweifung: Das spricht ein wenig für Bezahlschranken. Geben Leute Geld für Inhalte aus, ist die Wahrscheinlichkeit wohl recht groß, dass sie sich mit diesen Inhalten ernsthaft auseinandersetzen. Heißt: Überschriften-Kommentatoren, die ihre Meinung herausspucken, ohne den eigentlichen Text oder Artikel gelesen zu haben, werden vermutlich deutlich seltener anzutreffen sein.)
Wöchentliche Eindrücke
Weil es Spaß macht, jeden Tag ein bisschen mehr von „Morgen mehr“ zu lesen, und spannend ist, die weitere Entwicklung dieses Projekts zu verfolgen, werde ich ab sofort nach jeder abgeschlossenen Woche (also am Wochenende) meine Eindrücke in diesem Blogpost festhalten:
Woche 1
Kapitel 1-5 (11.01-15.01.)
„Ich weiß alles. Ich weiß den Anfang, den Mittelteil und den Schluss.“ So geht’s los, schon am ersten Tag skizziert das noch nicht geborene Ich sein Leben, das, so viel steht bereits fest, am 1. Januar 1973 beginnen, mindestens 44 Jahre dauern und durch einen Autounfall beendet werden wird. Reichlich Stoff für den „Mittelteil“ wird angedeutet: Höhepunkte, begangene Fehler und Versäumnisse. „Es wird ein volles Leben gewesen sein, so wie ein Leben sich halt füllt, was bleibt ihm auch übrig. Immer mehr Vergangenheit, bis kein Platz mehr dafür ist.“
Und dann beginnt das Ich von der Zeit vor seiner Geburt zu erzählen, von seiner Mutter in Frankreich und seinem Vater in Frankfurt, beide in allerhand Schwierigkeiten verwickelt, die einer baldigen Vereinigung im Wege stehen. Während seine Mutter sich an Punkt 19 ihrer Liste (gut, solche Listen zu haben!) abarbeitet („Mit einem schwermütigen Franzosen schlafen“), trauert sein Vater Claudia nach, seiner Ex, und wird von Möchtegern-Verbrecher Dimitri beinahe im Main versenkt.
Tiilman Rammstedt hat einen guten Start hingelegt, schreibt an manchen Tagen mehr als vom Verlag erwartet, involviert die Leser sachte in so verantwortungsvolle Fragen, welche Haustiere auftauchen sollen, scheint selbst am Ende der Woche mit dem Ergebnis und der Resonanz darauf zufrieden zu sein und bereitet darauf vor, dass die künftigen „Tagesdosen […] wohl oder übel näher an den anvisierten Zwei-Seiten-Umfang gestutzt werden müssen“ (Kommentar zum 5. Kapitel).
Woche 2
Kapitel 6-10 (18.01-23.01.)
Der Montag (Kapitel 6) beginnt mit einem Puffer-Kapitel, einem „Tag des aufgeschriebenen Überlegens“, wie es der Autor selbst nennt. Zwischen Dimitri und dem Vater, die sich, rein objektiv betrachtet, in einer Entführer-Geisel-Konstellation befinden, entsteht, was Experten in diesem Zusammenhang wohl als Stockholm-Syndrom bezeichnen würden: Sie kommen so schnell nicht wieder voneinander los. Dimitri entwickelt sich langsam aber sicher zu einer Hauptfigur, von der wir bestimmt noch viel hören werden, hoffentlich auch, ob er wirklich Uwe heißt und aus Offenbach kommt. Auch die Rolle des Mercedes weitet sich aus, Roadmovies erfreuen sich in der deutschen Literatur zurzeit ja großer Beliebtheit.
Bei der vergangene Woche zu erkennenden Melancholie der Mutter scheint es sich um eine ausgewachsene Depression zu handeln, die Traurigkeit hat in Kapitel 8 ihren großen Auftritt. Wie ein Teufel sitzt sie auf der Schulter der Mutter und flüstert ihr Gemeinheiten ein („Nein, dir wird es nirgendwo mehr gefallen, du brauchst dieses Wort gar nicht mehr, du kannst es wegwerfen, du kannst alles wegwerfen“), während der Engel durch Abwesenheit glänzt. Ich muss zugeben, dass ich anfangs nicht sicher war, was ich von der Einführung der Traurigkeit halten sollte. Ist das jetzt platt, habe ich mich gefragt, hat es das nicht schon hundertmal vorher irgendwo gegeben? Allerdings fällt mir auch nach längerem Nachdenken (vielleicht sollte ich es mal mit Googeln versuchen) nicht ein, wo. Und außerdem finde ich die Umsetzung tatsächlich schön. Kein Scherz.
Wie der Autor letzte Woche angekündigt hat, sind die Kapitel dieser Woche kürzer gehalten. Die Handlung wird nicht so rasant vorangetrieben, es werden kaum neue Figuren eingeführt. In seinem endwöchentlichen Kommentar (Kapitel 10) verrät Tilman Rammstedt: „Ich lese immer wieder, Schriftsteller hätten Angst vor der weißen leeren Seite. Das ist natürlich großer Unsinn. Ich zumindest habe viel größere Angst vor der vollgeschriebenen Seite, weil dann da Dinge stehen, mit denen ich mich später herumärgern muss, lauter Entscheidungen, lauter Fäden, die sich heillos verknoten und an deren Ende anscheinend leere Konservenbüchsen hängen, denn es scheppert immer lauter, je weiter man schreibt. Ich habe jetzt ein Sechstel des Buches. Das ist noch nicht sehr viel. Aber in dieser Woche musste ich einige größere Entscheidungen über die Geschichte fällen, und nach jeder Entscheidung muss man sich ja erst rührselig und wortreich von all den anderen Möglichkeiten verabschieden, die man verworfen hat, die jetzt keine Chance zu haben, man muss sie wenigstens noch bis zur Tür bringen, alles andere wäre unhöflich.“
Woche 3
Kapitel 11-15 (25.01-29.01.)
Schöne Idee am Wochenanfang: Tilman Rammstedt arbeitet mit Platzhaltern, um sich (noch) nicht festlegen zu müssen. Die Autofahrt von Vater, Dimitri und einem an einer Tankstelle aufgelesenen Jungen dauert an; der Plan, Claudia zurückzuerobern, wird geschmiedet, die, wie sich herausstellt, inzwischen geheiratet hat; die Mutter zeigt sich in einer „üble[n] Bar“ nicht gerade von ihrer sympathischsten Seite.
Eine ruhige Woche, an dessen Ende Tilman Rammstedt Einblicke in seine Zweifel gewährt:
– „Das mit dem 2-Seiten-pro-Tag-Durchschnitt war eine Fehlkalkulation.“ In der Tat sind die einzelnen Kapitel wieder länger. Was Autor und Verlag in Hinblick auf die gedruckte Ausgabe von „Morgen mehr“ bekümmern mag, dürfte den meisten Lesern egal sein. Online ist ja genug Platz.
– „Angst ist kein besonders guter Schreibcoach.“ Rammstedt will es vermeiden, „absoluten Unsinn“ zu veröffentlichen und befürchtet, dass diese Angst ihn in seiner Experimentierfreudigkeit einschränken könnte. Aus seiner Sicht wohl eine berechtigte Sorge, ist mir als Leser aber so noch nicht aufgefallen.
– „Ich habe jetzt fünf Charaktere, von denen ich drei mag.“ Da wüsste man jetzt natürlich gern, wen er mag und wen nicht. Verrät er aber nicht.
– „Bei einem auf herkömmliche Weise geschriebenem Buch würde ich jetzt wohl pausieren.“ Tja, was soll man dazu sagen?
– „Je länger man an einem Buch schreibt, desto dünner erscheint es mir.“ Kann ich gut verstehen, teile den Eindruck aber nicht.
Nett: Die Leser nehmen Anteil, sprechen Mut zu, machen Vorschläge. Tilman Rammstedt scheint sich schon ins Wochenende verabschiedet zu haben und kommentiert das nicht.
Woche 4
Kapitel 16-20 (01.02-05.02.)
Nach der Traurigkeit wird nun die Sehnsucht eingeführt. Auch das gelingt und sorgt für ein … sagen wir ruhig: poetisches 19. Kapitel. Eine Theorie: Hier wird der Vorzug der Lesereinbindung erlebbar, denn wüsste der Autor nicht, dass die Traurigkeit in Woche 2 bei den Lesern gut ankam, hätte er sich vielleicht gesagt, nun auch noch die Sehnsucht auftreten zu lassen, könnte zu viel des Guten sein, wäre dies vielleicht eine der „auf der Strecke“ gebliebenen Ideen gewesen, von denen Tilman Rammstedt im Kommentar zu Tag 15 spricht.
Die 44 taucht wieder auf (Kapitel 19), diesmal in Form von Tagen und als Ziffer, nicht in Jahren und ausgeschrieben, wie im ersten Kapitel.
Am Ende (Kapitel 20) wird es noch einmal richtig dramatisch. Fast alle tragenden Figuren (bis auf die Mutter) sind in einen Autounfall verwickelt. Ein gelungener Abschluss dieser Woche.
Was fehlt: Das freitägliche Philosophieren von Tilman Rammstedt, der sich diese Woche in den Kommentaren ohnehin auffallend zurückgehalten hat. (Ergänzung: Am 7. Februar hat Tilman Rammstedt doch noch einen Kommentar hinzugefügt, in dem er schreibt, dass er sich an diese Woche kaum erinnern könne.)
Woche 5
Kapitel 21-25 (08.02-12.02.)
Die montägliche Zusammenfassung dessen, was wir bislang wissen, fällt deutlich länger aus als zuvor, der „Was wir noch nicht wissen“-Teil fehlt. Weil das Kapitel sonst zu lang geworden wäre? Weil noch mehr Fäden ausgeworfen worden wären, die irgendwann wieder eingeholt werden müssten?
Der Autounfall ist glimpflicher ausgegangen als zu befürchten stand, Tilman Rammstedt nutzt die Gelegenheit, sich einiger Figuren zu entledigen, nicht. Entgegen dem von Lesern geäußerten Wunsch, überlebt auch Claudia – und in dieser Woche darf sie sogar sprechen, erscheint auf den ersten Blick vernünftig, lässt sich, bei genauerer Betrachtung, allerdings zu unausgereiften Entscheidungen hinreißen. So zum Beispiel bei ihrer übereilten Heirat mit Fridtjof: „Als er sie Weihnachten gefragt hatte, ob sie ihn heiraten würde, hatte sie nur ‚Ja‘ gesagt, weil ein ‚Nein‘ noch viel unpassender gewesen wäre. Aber sie hatte es gemocht, einfach ‚Ja‘ zu sagen, ohne sich dessen ganz sicher zu sein. Sie hatte es gemocht, einmal nicht das Wasser zu testen, bevor man hineinsprang, aber jetzt sollte es dann bitte auch tief genug sein und wohltemperiert“.
Fridtjof übernimmt diese Woche die Rolle als Dimitris Geisel; der Vater neigt zu Slapstick-Einlagen; das Ich wird langsam ungeduldig (verständlich, will es vor seiner Geburt noch gezeugt werden); die Mutter wird vom Erzähler nach wie vor stiefmütterlich behandelt und taucht nur an einem Tag (Kapitel 22) auf, weiterhin in Frankreich mit der Traurigkeit kämpfend.
Und Tilman Rammstedt? Scheint sich diese Woche bestens beim Schreiben amüsiert zu haben, wagt sich an einigen Stellen bis zur Albernheit hervor, kriegt dann aber doch wieder die Kurve. Besonders schön ist das 24. Kapitel, das in 64 Antworten (von Fridtjof an Dimitri) erzählt wird. Auch das Lügen-Kapitel (25) ist gut gemacht.
Noch zwei Zitate aus den Kommentaren:
1. Tilman Rammstedt gibt Einblick in seine Recherchearbeit: „Nichts verwirrt den Google-Werbungs-Algorithmus übrigens so sehr wie Bücherschreiben. Meine noch offenen Browserfenster heute morgen waren Suchanfragen für ‚Eheringe Preise‘, ‚Scheidungsrate 1972‘ und ‚Ausgehen in Hanau‘.“
2. Jo Lendle entdeckt seine Vorliebe fürs Kommentarlesen: „Bisher glaubte ich, das größte Glück liege darin, die Kapitel als Erster lesen zu dürfen. Jetzt – nach ein paar Tagen im netzlosen nepalesischen Grenzgebiet – stelle ich fest, dass es sich genau andersherum verhält: Als Letzter hinterher zu lesen ist sensationell. Später Gast einer andauernden Feier. Der Besenwagen auf dem Highway to Paris.“ Ich stimme zu und empfehle, die Kapitel einer Woche am Wochenende noch einmal gesammelt mit Kommentaren zu lesen.
Woche 6
Kapitel 26-30 (15.02-18.02.)
„Ich erzähle hier schon fünf Wochen lang, ich springe wild hin und her, um nichts zu verpassen, was für mich wichtig sein könnte. Fünf lange Wochen, aber für meine Eltern ist angeblich gerade mal ein einziger Tag vergangen“, stellt das Ich im 27. Kapitel fest und fasst damit die ersten fünf Wochen treffend zusammen. Auf der Handlungsebene passiert in der sechsten Woche recht wenig, das Ich philosophiert in mehreren Kapiteln über die Zeit. Das erste Kapitel dieser Woche (26) beginnt wie gewohnt mit einem „Was wir bislang wissen“-Teil („Was wir noch nicht wissen“ fehlt erneut), erzählt dann aber gar nicht von bislang Bekanntem, sondern läutet die Woche mit der These ein: „Wir wissen, dass es keine Zeit gibt.“ Das Konzept der Zeit wird so gründlich in Frage gestellt, dass es, wie einige Kommentatoren schon vermuten, nicht überraschen würde, wenn die Geschichte in Wirklichkeit doch nicht im Jahr 1972 spielt oder das Ich nicht im Januar 1973 geboren werden müsste. „Morgen mehr“ könnte also weniger geradlinig verlaufen als erwartet.
Am 29. Tag kommt die bisher immer nur als „Junge“ bezeichnete Figur in einem eigenen Kapitel zu Wort, der Erzähler schaut ihm „beim Schreiben in sein Notizbuch über die Schulter“. Der Erfolg des Vaters bei Claudia fällt weiterhin bescheiden aus, die Mutter wirkt noch verwirrter als vorher, wird, durch den Ratschlag einer Uhrmacherin, endlich auf den Weg nach Paris geschickt. Ein Screenshot von Google Maps weist darauf hin, dass die Autofahrt von München nach Paris nach heutigen Gegebenheiten acht Stunden und eine Minute dauert (Tag 29). Das lässt hoffen: Selbst wenn der Erzähler in diesem Tempo weitererzählt, besteht die nicht ganz unwahrscheinliche Möglichkeit, dass sich beide Elternteile nächste Woche in Paris einfinden werden. Auch wenn mir die Puffer-Kapitel und philosophischen Ausschweifungen gefallen, würde ich es begrüßen, wenn die Geschichte nächste Woche wieder ein bisschen mehr an Fahrt aufnehmen würde.
Der wöchentliche Abschlusskommentar von Tilman Rammstedt: „Aber es gibt Tage und Kapitel, die einem leichter fallen als andere, auch daran erinnere ich mich genau. Bei ‚Morgen mehr‘ gab es davon bisher sehr wenige. Alle Tage waren beim Schreiben recht ähnlich: Zuversicht, Anfangen, Zweifeln, Zweifeln, Zweifeln, Schreiben, Zweifeln, Fluchen, Schreiben, Zweifeln, Abschicken, Zweifeln, Feierabend. Es ist also jeder Tag ein ganzer Roman.“
Woche 7
Kapitel 31-35 (22.02-26.02.)
Tilman Rammstedt ist krank, schreibt aber trotzdem, am Freitag (Kapitel 35) allerdings kürzer, weshalb „wir in diesem Kapitel nur ein paar wenig entscheidende Dinge über Dimitri erfahren“. So schnell wie ich letzte Woche gehofft hatte, geht es nicht voran, aber immerhin haben alle bisher in Deutschland befindlichen Figuren die Grenze nach Frankreich überquert, und auch die Mutter ist nun auf dem Weg nach Paris.
In dieser Woche tauchen ein paar neue Nebenfiguren auf, deren Geschichten Tilman Rammstedt mit wenigen Sätzen anschaulich und liebenswert erzählt. So etwa Grenzkontrolleur Clément Denaux, der wegen höllischer Kopfschmerzen seine Arbeit vernachlässigt und jeden durch die Kontrolle winkt. Oder Dr. Rolf, Chef der drei Männer im Pelz, von dem wir bestimmt noch mehr hören werden.
Sieben Wochen sind nun rum, das heißt: Halbzeit. Autor und Team ziehen im Blog eine Zwischenbilanz. Tilmann Rammstedt hat bislang fast 30.000 Wörter geschrieben, „Morgen mehr“ hat 1871 Abonnenten, die bislang 1573 Kommentare veröffentlicht haben. Über 100 übrigens am letzten Freitag, wo einige Leser auf Aufforderung des Teams ebenfalls auf die erste Hälfte von „Morgen mehr“ zurückblicken. Die Reaktionen sind begeistert, manche fast überschwänglich, kein böses Wort fällt. Ein Kommentator wundert sich über sich selbst, dass er täglich mitkommentiert, obwohl er „Communities nicht ausstehen“ kann; eine andere Kommentatorin glaubt gar, „dieses Projekt“ werde ihr „zukünftiges Leseverhalten beeinflussen“. Die Stimmung ist also nach wie vor gut, ich schließe mich den positiven Kommentaren an. Ich freue mich jeden Tag auf das neue Kapitel, bin sehr gespannt, wie das Ganze weiter- und ausgehen und am Ende als Buch aussehen wird.
Woche 8
Kapitel 36-40 (29.02-04.03.)
Zu Wochenbeginn (Kapitel 26) lässt Tilman Rammstedt im „Was wir bislang wissen“-Kapitel den Februar ausklingen, der ja tatsächlich einer der schlimmsten Monate ist, für die er selbst aber gar nichts kann, wie der Erzähler uns erklärt. Die übrigen vier Tage teilen sich die Figuren, die sich inzwischen als Hauptpersonen herauskristallisiert haben: Am Dienstag (Kapitel 27), wo nicht nur die Mutter, sondern auch der Autor „schlechte Laune“ hat, gibt es eine Hasstirade über Paris; am Mittwoch (Kapitel 28) zeigt sich, dass auch Fridtjof (wie so viele anderen Figuren in „Morgen mehr“) eine Schraube locker hat; am Donnerstag (Kapitel 29) wird ein Happy End zwischen dem Vater und Claudia immer unwahrscheinlicher, was er vermutlich nie akzeptieren wird; am Freitag (Kapitel 30) führt der Junge (der mir, ehrlich gesagt, zunehmend auf die Nerven geht) einen weiteren seiner altklugen und seltsamen Monologe.
Tilman Rammstedt meldet sich in dieser Woche in den Kommentaren kaum zu Wort, Verleger Jo Lendle scheint untergetaucht zu sein. Dafür fallen am Freitag zum ersten Mal böse Töne in den Kommentaren. User/in justumu, der/die am Tag gefühlte 100 Spotify-Links postet, wird von einem/einer genervten Honey Writer aufgefordert: „Halt endlich dein Maul, wenn du nichts beigetragen hast“ (soll wohl „beizutragen“ heißen).
Woche 9
Kapitel 41-45 (07.03-11.03.)
In dieser Woche hat sich der Hanser Verlag eine kleine Überraschung einfallen lassen: Tilman Rammstedt liest am Mittwochabend live das Tageskapitel (43) und das bereits fertige Kapitel (44) des nächsten Tages. Rund 50 Zuseher hören einem nur ein bisschen aufgeregten Autor zu, darunter das Team, das es sich im Hanser Verlag mit Pizza und Wein gemütlich gemacht hat. Die Idee ist auch insofern nett, als dass es online wenig Bewegtbilder von Tilman Rammstedt gibt (das Video seiner Bachmann-Preis-Lesung von 2008 scheint leider nicht mehr zu funktionieren, oder geht das nur mir so?), und eine Live-Videolesung schon etwas anderes ist als das Hören des Tageskapitels.
Bei der YouTube-Suche bin ich auch auf ein im Dezember 2015 online gestelltes Werbe-Video zu „Morgen mehr“ gestoßen – eins davon besonders interessant, weil es einen Jungen zeigt, der hier bereits ankündigt, dass er bei „Morgen mehr“ in „einer Nebenrolle“ vorkommen wird:
Frage: Ist das Tilman Rammstedts Sohn? Eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich ja schon erkennen. Ich habe den Hanser Verlag auf Twitter gefragt; mal sehen, ob sie antworten.
Womit wir nun schon wieder bei dem Jungen wären: Ich möchte gerne glauben, dass er in „Morgen mehr“ vor allem deshalb vorkommt, weil das so schon im Dezember feststand, denn leider geht er mir auch in dieser Woche wieder auf die Nerven (Kapitel 45). Lässt sich die auffallend geringe Anzahl an Kommentaren (23 am Samstagabend) so deuten, dass ich damit nicht allein bin? Denjenigen, die an diesem Tag kommentieren, scheinen seine Auftritte aber zu gefallen.
Was passiert sonst noch diese Woche? Der Montag startet nicht mit einem „Was wir bislang wissen“-Kapitel, stattdessen gibt’s ein Interview mit dem Hammer, mit dem die Mutter die Zeit zerstören möchte (Kapitel 41). Das gefällt nicht jedem. Kommentator pfeifersteiner:
„… jetzt wird es kindisch … Interview mit dem Hammer, was soll das für Stilmittel sein .. das Buch hätte ich aber eh schon vor einigen Kapiteln aus der Hand gelegt … Schreiben um des Schreibens willen … ich hätte trotzdem gerne auch eine Geschichte, darf absurd sein, sich jedoch nicht in den selbstverliebten Wörtern verlieren …“
Solch kritische Töne fallen auf „Morgen mehr“ normalerweise nicht. Impulso hält, seinem Namen entsprechend, eine leidenschaftliche Gegenrede:
„Echt der Hammer, dieses Kapitel. Sage noch einer, ein Hammer sei ein grobes Werkzeug, so fein wie hier erzählt wird.
Und genau darum geht es doch: Schreiben um des Schreibens willen, für den Perspektivwechsel, das Verlassen des Gewohnten, das bewusste Offensein für einen Impuls (der nur dann Impuls sein kann, wenn er eben NICHT vorab bekannt war). Bitte also auch weiterhin kein Schreiben für ein vorab festgelegtes Ziel!
Wo kämen wir da hin? Und an welche wunderbaren Orte kommen wir statt dessen mit einem Schreiben, wie TR es tut! Wer den Verstand und die Analyse mal loslassen lassen kann, entdeckt tausend Geschichten. Manche verlieren sich, Manche kommen zu uns zurück. Manche erfreuen uns, manche langweilen uns. Manche ärgern uns sogar – aber alle begleiten uns und lösen etwas aus in uns. Und das alles können Worte! Wow!“
Diese Auseinandersetzung ignorierend, meldet sich auch Tilman Rammstedt am Montag in den Kommentaren zu Wort und schiebt seine Schlussbetrachtung von Woche 8 ein („Ich selbst beruhige mich immer wieder damit, dass das hier noch nicht das Buch ist. Es ist der Schreibprozess. Was für Sie bedeutet: Sie lesen keinen Roman, sie lesen ein Tasten.“). Auch darauf gibt es einige interessante Reaktionen, wie sich an diesem Tag in den Kommentaren ohnehin wesentlich mehr ernsthafte Gedanken und Diskussionsansätze finden als üblich.
Der eigentliche Höhepunkt der Woche besteht wohl darin, dass endlich alle Figuren in Paris eintreffen. Wenn ich die Andeutung am Ende von Kapitel 43 richtig verstehe, begegnet die Mutter hier Dimitri, was sicher ein gutes Zeichen ist. Wer sich in dieser Woche erstaunlich zurückhält, ist das Ich.
Insgesamt eine ereignisreiche und reichhaltige Woche, die Vorfreude auf die letzten vier Wochen von „Morgen mehr“ macht.
Woche 10
Kapitel 46-50 (14.03-18.03.)
Tilman Rammstedt und Jo Lendle sind auf der Leipziger Buchmesse. In einem sehr sehenswerten Interview auf dem Blauen Sofa des ZDF berichten die beiden über die Idee zu „Morgen mehr“, die tägliche Arbeit daran und die Reaktionen. Tilman Rammstedt spricht über seine Zweifel, ist, drei Wochen vor dem Ende, aber zuversichtlich, es zu einem guten Abschluss zu bringen. Wie das Ganze ausgeht, ob das Ich überhaupt geboren wird, wisse er aber noch nicht.
Das Ich beginnt die Woche leicht verzweifelt mit einem „Was ich bislang unter anderem weiß“-Kapitel und wirft noch einige letzte Blicke auf die zu Ende gehende Beziehung des Vaters zu Claudia (Kapitel 46). Zwischen der Mutter und Dimitri bahnt sich etwas an (Kapitel 47). Dr. Rolf taucht wieder auf (Kapitel 48), erstaunlicherweise als vorbildlicher Ehemann, und begibt sich nun ebenfalls nach Paris, um die drei Hendels zur Rechenschaft zu ziehen (Kapitel 48). Und der Junge nervt weiter (Kapitel 50).
Eine sehr ruhige Woche ohne besondere Höhepunkte.
Woche 11
Kapitel 51-54 (21.03-24.03.)
Wegen Karfreitag eine kurze Woche, aber immerhin die Woche, in der sich die Mutter und der Vater endlich in Paris unterm Eiffelturm begegnen. Von Liebe auf den ersten Blick kann wohl keine Rede sein, weil fast alle anderen Figuren auch dort sind und insbesondere die drei Hendels mit ihren Pistolen für Verwirrung sorgen. Auch das Ich hatte sich diese lang ersehnte Begegnung seiner zukünftigen Eltern anders vorgestellt: „Da standen sie doch endlich, da waren sie sich doch endlich nah, und das sogar im Licht des Eiffelturms, darauf hatte ich doch gewartet, das hatte ich doch so sehr erhofft, aber nicht auf diese Weise, das sollte doch ein Anfang sein, und jetzt schien es nur einfach mit ein paar Schüssen zu enden, viel zu früh und viel zu unnötig, und ich wollte schreien, laut und entscheidend, es war ein Skandal, wie still alles war, wie sich alle ergaben, als ob es nur um sie ginge, als ob sonst alles weiter liefe.“
Eine schöne Woche, wo sich abzeichnet, wie viele Fäden zusammengeführt werden: die Hendels haben endlich Dimitri gefunden und werden wohl bald mit Dr. Rolf zusammentreffen (der noch nicht am Eiffelturm ist); Claudia sieht den Irrtum ihrer vorschnellen Heirat mit Fridtjof ein; Fridtjof ist weiterhin auf der Suche nach seinem Lebensinhalt (Schafzüchter?); Dimitri verwandelt sich langsam aber sicher zurück in Uwe; und der Junge scheint am Ende entscheidend in die Handlung einzugreifen.
Woche 12
Kapitel 55-58 (29.03-01.04.)
Ein „Rudel von Knallchargen“, so nennt das Ich die Figuren in Kapitel 57 und bringt damit ziemlich passend auf den Punkt, welche Charaktere Tilman Rammstedt in den vergangenen Wochen erschaffen hat. All diese durchgedrehten Figuren befinden sich, nach einer rasanten Verfolgungsjagd, auf dem Eiffelturm, wo es nächste Woche offenbar zum Showdown kommt, wobei der Autor selbst noch mit dem Ende von „Morgen mehr“ hadert, wie er am Freitag in den Kommentaren verrät:
„Und ein Ende klingt nur immer so singulär. In Wahrheit haben Bücher ja meistens mehrere Enden: eine Art Showdown, dann eine Auflösung und schließlich noch wahlweise eine Versöhnung oder Verstörung, zwischen den Figuren oder zwischen Autor und Leser. Und nur für eines dieser Enden habe ich eine vage Idee, die allerdings mit einigem oder gar vielem aus dem bisher Geschriebenen nicht zusammenpasst, aber das lässt sich bei dieser Art des Schreibens wahrscheinlich ohnehin nicht vermeiden. Und ich ahnte immer, dass eine punktgenaue Landung hier zu den größten Herausforderungen gehören würde, also hoffe ich nur, dass es nicht ein allzu abrupter Absturz wird. Es wird in jedem Fall ruckeln.“
Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt, wie nächste Woche alles endet – und ob wirklich alles endet, denn die Möglichkeit zur Fortsetzung (das komplette Leben des Ich) ist ja deutlich angelegt.
Woche 13
Kapitel 59-64 (04.04-09.04.)
Am Samstag überraschen Autor und Verlag mit einem zusätzlichen Kapitel, das für mich den Höhepunkt dieser Woche darstellt. Nicht nur weil es ein netter Einfall ist, sondern auch weil „Morgen mehr“ damit wunderbar abgerundet wird. Auch wenn Tilman Rammstedt es als „Schaltkapitel, das wir nur noch erahnen können“ bezeichnet und, passend zu den anfänglichen Montagskapiteln, mit „Was wir alles noch nicht wissen“ überschreibt, werden hier doch noch einmal Antworten auf Fragen gegeben, auf die das eigentlich abschließende Freitagskapitel (63) nicht eingegangen ist.
Die größte Überraschung dieser Woche: Der im 11. Kapitel wie aus dem Nichts auftauchende Junge ist offenbar identisch mit dem Ich, was erklärt, warum der Junge stets so eifrig ein Notizheft vollgeschrieben hat (das am Ende vom Eiffelturm fliegt). Sah es am Freitag noch so aus, als hätte sich der Junge die Mutter und den Vater schlicht – und mehr oder weniger zufällig – als seine Adoptiveltern auserkoren, stellt sich im letzten Kapitel heraus, dass die beiden offenbar doch an seiner Zeugung beteiligt waren: „vor genau dreizehn Jahren, nach dieser Nacht auf dem braunen Kellersofa und darauf zwei eigentlich viel zu junge Menschen, die kaum wussten, was sie da taten, und trotzdem nicht damit aufhörten, alles stumm und fremd und schön wie tief unter Wasser.“
Um die Verwirrung noch zu steigern, wird Eva, die tote Zwillingsschwester der Mutter, als Mutter des Jungen identifiziert. Also wie jetzt? Die im gesamten Text als Mutter gehandelte „Mutter“ ist in Wirklichkeit nur die Tante des Ich? Oder gab es diese Zwillingsschwester nie, handelt es sich bei Eva um eine Einbildung der „Mutter“? Falls nicht: Was ist denn mit Eva passiert, wie ist gestorben? Mir fehlt hier gerade der Durchblick, ich wäre für ein wenig Aufklärung dankbar.
Was mir besonders gut gefällt, sind die mephistolischen Züge, die der Junge (der mir zwischenzeitlich ja ein wenig auf die Nerven ging) annimmt, denn anscheinend hat er alle handelnden Figuren manipuliert, hat eine riesige Insznierung um sich herum aufgebaut und so nicht nur die Figuren, sondern auch die Leser ordentlich verwirrt. Das allerdings ist natürlich auch etwas, was wir nur „ahnen“ können und dem Jungen oder dem Ich, diesem unzuverlässigen Erzähler, nicht glauben müssen. Alles könnte sich schließlich auch anders verhalten, das lässt Tilman Rammstedt am Ende schön offen.
(Schön auch, dass die Traurigkeit noch einen kurzen Auftritt hat, als sich die Mutter von ihr, auf absehbare Zeit, verabschiedet.)
Fazit
Tilman Rammstedt hat es tatsächlich geschafft, „Morgen mehr“ innerhalb des vorgegebenen Zeitplans zum Ende zu bringen. Trotz der Schwierigkeiten beim Schreiben, in die er hin und wieder einen Einblick gewährt hat, ist es ihm gelungen, an jedem Werktag ein neues originelles Kapitel zu veröffentlichen, und wer bis zum Ende mitgelesen hat, wird wohl nicht bestreiten können, dass hier in den letzten drei Monaten etwas Besonderes entstanden ist. Ich muss zugeben, dass „Morgen mehr“ nach einem fulminanten Start im Januar für mich zwischenzeitlich ein paar Längen aufwies, ich hätte mir ein schnelleres Vorantreiben der Handlung gewünscht. Umso mehr beeindruckt es mich, wie Tilman Rammstedt zum Abschluss viele Fäden sinnvoll zusammenführt. Und dass am Ende Fragen offen bleiben, ist ja auch nicht das Schlechteste, was sich über einen Roman sagen lässt.
Insgesamt habe ich mich jeden Tag auf das nächste Kapitel gefreut und es keine Minute bereut, dieses Abo abgeschlossen zu haben. Auch die Kommentare waren mitunter unterhaltsam zu lesen, wenn sie sich oft auch eher um die Kommentatoren selbst als um den Text drehten.
Jo Lendle berichtet in seinem Fazit von einem Vierteljahr mit „Morgen mehr“: „Das war Grübeln, Seufzen, Kichern – und immer wieder Verblüffung, wenn TR auf der Flucht vor sämtlichen hinter ihm herjagenden Deadlines wieder einmal überraschendste Haken schlug.“ Mit Hilfe von Google Docs habe Lendle an allen möglichen Orten und zu allen möglichen und unmöglichen Tages- und Nachtzeiten lektoriert. Am 15. April geht er in den Kommentaren noch auf die Kritik ein, der Verlag habe diese Projekt zu wenig vermarktet, und gibt ein wenig mehr Einblick in die Möglichkeiten und Begrenzungen, denen sich der Hanser Verlag ausgesetzt sah.
Tilman Rammstedt schreibt am 11. April ein Resümee, das eigentlich keines sei, weil für ihn die Arbeit an „Morgen mehr“ ja noch nicht vorbei ist: „Und dann werde ich, eher früher als später, wohl mal dieses ‚Buch‘ lesen müssen, all diese entstandenen Seiten und Figuren und Geschehnisse, um in den nächsten Wochen die Anführungsstriche so gut es geht abzubauen und einen Roman daraus zu machen, der so tut, als sei alles volle Absicht gewesen. Kein einziges Mal habe ich bislang zurückgeblättert (oder nur, um mal irgendein Detail nachzuschlagen), das wird ein seltsames Wiedersehen.“
„Morgen mehr“ wird am 25. Juli 2016 als Buch erscheinen, nicht, wie ursprünglich vorgesehen, schon im Mai. Ich bin gespannt, ob Tilmann Rammstedt viele Änderungen vornehmen wird und wie „ganz normale“ Leser, die „Morgen mehr“ nicht online gelesen haben, diesen Roman aufnehmen werden.
Ich kann mir vorstellen,daß Tilman Rammstedt den/die Ich Erzähler/in,den Vater von Ich und den vierzehnjährigen Jungen mag.Vielleicht verrät er es irgendwann einmal.
Und die Mutter nicht? Interessant! Dafür spricht allerdings, dass die Mutter seit einer Woche nicht aufgetaucht ist und ihre Geschichte ein wenig stagniert, auch weil es bis auf ihre tote Schwester gar keine anderen Figuren in ihrem Umfeld gibt.
Habe heute in den Kommentaren gelesen,dass die Frauen bei morgen mehr allgemein nicht so sympathisch wirken.Hab dem bisher nicht so Beachtung geschenkt.Aber ja.Es stimmt die Frauen sind irgendwie alle sehr seltsam (: Wobei Dimitri auch nicht gerade sympathisch ist oder die drei Männer im Pelzmantel.Bin neugierig,was für Abgründe sich Tilman R. Für Claudia ausdenkt.Ein schräger Haufen.Sehr amüsant finde ich.
Ja, das stimmt! Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Die Mutter könnte sich langsam mal aus ihrem Tief befreien, und Claudia nervt auch ein wenig (was wohl an der jämmerlich-verklärten Perspektive des Vater liegt). Ansonsten gibt es ja auch nicht so viele Frauenfiguren bis jetzt.
Allerdings werden die Männer auch überwiegend als – immerhin einigermaßen sympathische – Deppen beschrieben. „Schräger Haufen“ triftt es da ziemlich gut … 🙂
Ich bin sehr dafür,dass Jean-Baptiste wieder auftaucht und für sinnliche Momente sorgt haha
Gute Idee 🙂
Wer weiß wie oft der Autor selbst,der Lektor und sämtliche Hansermitarbeiter anonym hier eine Show abziehen 😀 Zu dem jungen Mann.Wenn er ständig um mich wäre glaub ich würde er mir echt den Nerv ziehen! In der Geschichte finde ich ihn amüsant! Mann o Mann die haben echt alle ein Eck weg 😉 Bin sehr neugierig wie es weitergeht.Alles ist offen.Hoffe,daß Jean Baptiste nochmal auftauchen wird.Freue mich immer auf deine Zusammenfassung! Danke
Mir fällt noch was ein: Was besonders bei justumu,aber auch bei ein paar anderen auffällt.Ihre Kommentare und Links passen oft gar nicht zu Tilman Rammstedts Text.Sie schreiben über ihre ganz persönliche Situation und ihre momentanen Befindlichkeiten.Hat auch was schräges :S
Hallo Paulina,
danke für deine Kommentare. Freut mich, dass du jede Woche meine Zusammenfassung liest.
Stimmt, es ist alles offen, und langsam wird es wirklich spannend, wie das in einem Monat alles endet – und ob es dann überhaupt „fertig“ ist. Eine Fortsetzung ist aber bestimmt noch drin, was mich freuen würde.
Es ist tatsächlich auch interessant, sich am Ende der Woche noch einmal die Kommentare durchzulesen, die, wenn ich es richtig verstehe, sogar mit ins Buch aufgenommen werden können (der Verlag hält sich das wohl offen). justumus Kommentare hatte ich bisher einfach überlesen, aber wenn man mal darauf achtet, kann ich schon verstehen, dass man da etwas aggressiv wird 🙂 Ich habe selbst ja noch nie einen Kommentar hinterlassen, weil mir unmittelbar nicht einfällt, was ich da schreiben sollte, aber vielleicht sollte ich mich auch einfach mal über meine Befindlichkeiten auslassen 🙂
Ja,lass alles raus Eh klar, keiner muß die Kommentare lesen.Keiner muß etwas schreiben.Auf eine spannende Morgen mehr Woche!
Hi!
Beim Nachlesen der einzelnen Kapitel bin ich auf eine verstörende Stelle gestoßen.Der Junge feuert Dimitri an das Auto von Claudia zu rammen.Damit wäre er viel gefährlicher und dümmer als bisher von mir angenommen.Er machte auf mich stets einen mitleidserregenden,harmlosen,ein wenig autistischen und altklugen, teils hilfsbereiten auf die Dauer aber nervigen Eindruck.Als Figur finde ich ihn weiterhin interessant und auch unterhaltsam.